7 April 2008

Verbirgt sich hinter Euphoria die Zukunft der Videospiele?


Mit dem Release von GTA IV wird der Welt zum ersten Mal Euphoria präsentiert, eine bahnbrechende neue Middleware. Versuche, die Entwicklerfirma aufzukaufen, werden die logische Folge sein. Meine Herren, Ihre Gebote bitte!

(Basierend auf einem Artikel von Chris Stead,
Gameplayer.com.)

In der Spieleindustrie herrscht momentan eine Stimmung wie auf dem Marktplatz. Andauernd werden wir aus unseren Träumen gerissen (in denen wir Prinzessinnen befreien oder die Welt retten), weil wieder einmal ein Spieleentwickler lautstark, und nicht ohne Konsequenzen, von einem noch größeren Fisch geschluckt wurde. EA kauft BioWare, Activision verschmilzt mit Vivendi, EA will sich Take-2 einverleiben und Ubisoft gelingt es sogar, Tom Clancy von seinem eigenen Namen zu trennen - und all das natürlich nicht gerade für umsonst...

Ein solches Hin und Her selbst in den obersten Etagen der Besitzstrukturen - dem Land der Anzugträger - sollte allerdings nicht weiter verwundern, besonders nicht in diesen Zeiten globaler Finanzpanik, in der jeder Geschäftsmann und seinen Anwalt versuchen, die Wurzeln der Firma zu festigen und alles in einen möglichst kugelsicheren Zustand zu bringen. Bleibt nur die eine Frage: Wer wird der nächste sein? Und vieles deutet dabei in eine bestimmte Richtung: NaturalMotion. Doch wer wird alles versuchen, NaturalMotion zu kaufen?

Für diejenigen, die es noch nicht wissen, die Firma NaturalMotion ist ein Spezialist für Animationssoftware, oder besser gesagt Animations-"Middleware" (Siehe Wikipedia), die z.B. in der Entwicklung von Spielen eingesetzt wird, um dann als Teil des Endprodukts im Hintergrund seine Arbeit zu verrichten. Die Firma existiert bereits seit 2001, weckte aber erst auf der E3 2006 explizit das Interesse der Spieleindustrie. Hier geschah es, dass LucasArts die Presse in einen kleinen Hinterraum führte und ihr Indiana Jones und eine Technikdemo von Star Wars: The Force Unleashed präsentierte. Überraschenderweise schien es jedoch so, als ob beide Demonstrationen in erster Linie NaturalMotions beeindruckender Animationssoftware galt und eher hintergründig den eigentlichen Spielen. Man erkennt daran, für wie wichtig LucasArts diese Technik für den Erfolg der Spiele ansieht - sie ist ein fundamentaler Aspekt für den gesamten Spielablauf und die physikalischen Eigenschaften, die diese beiden Spiele so besonders machen.

Journalisten, die Zeuge dieser Vorführung wurden, hinterließen eine Spur von Sabber vom Boden des Vorführraums über den gesamten Weg zurück an ihre Rechner, von denen aus sie anschließend Texte der Begeisterung ins Internet rauspumpten. Es hatte tatsächlich diese enorme Wucht. Was so besonders und neuartig war? Prozedurale Animation. Ein zaberhafter Begriff. Das Konzept ist, dass sämtliche Animationen in Echtzeit vom Prozessor berechnet werden - und zwar in direkter Abhängigkeit von allem, was in der näheren Umgebung passiert und wie sie modelliert ist. (Beispielsweise stützen sich in GTA IV manche Fußgänger schützend gegen die Motorhaube ab, wenn man langsam auf sie zu rollt.) Dieser Ansatz ist ein krasser Gegensatz zur herkömmlichen Methode, bei der die Entwickler eine große Sammlung vorgefertigter Animationen anlegt und das Spiel diese zum passenden Zeitpunkt abruft.

Ein klassisches Beispiel dieser herkömmlichen Methode ist der sterbende Handlanger (von dem es in den meisten Spielen etliche gibt): Das Spiel hat beispielsweise eine Animation für einen tödlichen Treffer irgendwo in Kopfnähe, eine für einen Treffer im Oberkörper und so weiter. Trifft nun ein virtueller Schuss, wird der Einschlag registriert und die entsprechende Animation eingeleitet. Das Problem daran ist nur folgendes: Der Kerl kann auf der Straße stehen, auf einer Leiter oder einer Treppe, ganz egal, seine Bewegung wird immer dieselbe sein.

DIe Idee der prozeduralen Animation gibt es natürlich nicht erst seit gestern. NaturalMotion hat sie mit Euphoria-Engine und deren implementierter "Dynamic Motion Syntheses" (dynamische Synthese von Bewegungen) jedoch auf eine neue Evolutionsstufe gehoben. Als Vorbild dienten zudem Studien aus der Biologie, mit besonderem Augenmerk auf das menschliche Nervensystem, sowie Biomechanik, wodurch diese Technologie das Potenzial hat, das generelle Erscheinungsbild von Bewegungen in Spielen grundlegend zu verändern.

Vom spielergesteuerten Protagonisten des Spiels bis zu realistisch reagierenden Rauchschwaden greift Euphoria sämtlichen beweglichen Objekten unter die Arme - mit einem System, dass ständig die Interaktion mit der Umwelt berücksichtigt und auch logischerweise alles in Echtzeit errechnen muss. Da der gesamten Spielwelt dieselbe physikalische Technologie zugrunde liegt, können sich Dominoeffekte, welcher Art auch immer, theoretisch über eine gesamte virtuelle Stadt ausbreiten. Dies ermöglicht einerseits künstliche Welten mit einer plausiblen, abwechslungreichen Realitätsnähe und außerdem echte Unterhaltung durch eine für jeden Nutzer individuellen Spielerfahrung.

Kurz gesagt: Es rockt wie Sau.

Zwei der weltgrößten und einflussreichsten Entwickler-Teams erkannten dieses unglaubliche Potenzial von Anfang an. Ich erwähnte bereits LucasArts, doch ihr Versagen darin, seit 2006 auch nur ein Euphoria-basierendes Spiel auf den Markt zu werfen, degradiert sie zum zweiten Geiger - die erste spielt nun jemand anderes: Rockstar Games. GTA IV wird nicht nur voraussichtlich das größte Spiel des Jahres, sondern könnte sogar als eines der bedeutendsten Spiele aller Zeiten im Gedächtnis bleiben - auf gleicher Stufe mit allen SuperMario64s, DOOMs und Pac-Mans dieser Welt. Und eine große Rolle wird dabei Euphoria spielen.

Gameplayer.com hat das Spiel bereits intensiv gespielt und attestiert, die schiere Kraft von Euphoria sei nicht verleugbar. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: In GTA, der Mutter aller offenen 3D-Spielwelten, kommt mit Euphoria die Mutter der offenen Animationstechnologie zum Einsatz, und das in einer so detaillierten Stadt, wie sie bisher nur in GTA IV vorkommt. Das eröffnet endlose Möglichkeiten und nicht zuletzt den zuvor erwähnten Dominoeffekt. Es ist tatsächlich ein Fall von "Wenn in Alderney ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt..." Nichts gegen Rockstar Games und ihre eigene RAGE-Grafikengine, aber der 29. April wird mehr sein als nur der Tag, an dem GTA IV erscheint - es wird auch der Moment sein, in dem NaturalMotion sein Statement klarmacht, wie Spielen in der nächsten Generation auszusehen hat. Und das wird auch dem Land der Anzugträger nicht entgehen.

Es ist wirklich eine Technologie, für die es sich zu sterben lohnt und NaturalMotion kann sich vom 30. April an schon mal auf viele Übernahmeangebote freuen - große Angebote ... von sechs, sieben, vielleicht sogar acht großen Firmen? Doch wer ist der größte Verehrer?

EA, mit seiner legendären Tendenz, sich seinen Weg durch die gesamte Industrie zu plündern und vergewltigen, ist wohl der wahrscheinlichste Kandidat. Gameplayer.com hat erst kürzlich detailliert über EAs Bestreben berichtet, die besten Spiel-Engines dieser Generation in seinen Besitz zu bringen, warum sollte dann nicht auch NaturalMotion auf ihrer Liste stehen?

Manche Indizien sprechen sogar dafür, dass NaturalMotion versucht, sie aktiv zu ködern. Als wäre die Arbeit der Engine in GTA und Star Wars noch nicht genug, werden wir 2008 nämlich auch noch die Veröffentlichung von Backbreaker erleben, ein von der Firma selbst entwickeltes Spiel, das die Kraft von Euphoria auf das Genre der Sportspiele anwenden und deren perfekte Symbiose beweisen soll. Aber es geht dabei nicht um irgendeinen Sport, sondern um American Football, die Sportart, die EA seit Jahren mit ihrer Madden-Serie dominiert. Allein der Gedanke von Euphoria in Verbindung mit Teamsport, mit all den glaubhaft miteinander agierenden Spielern genügt, um Zockermundhöhlen zu bewässern - und um EA-Funktionären Schweißperlen auf die Stirn zu treiben. (Einen wirklich beeindruckenden Trailer des Spiels gibt es übrigens hier auf Gametrailers.com!)

Es ist, als würde NaturalMotion eine rote Flagge vor dem wütenden Stier schwingen mit den Worten "Kauft uns doch, wenn ihr könnt - bevor es zu spät ist!" Ich persönlich hoffe es zwar nicht, doch Gamplayer.com glaubt, EA wird genau das tun. Wenn man nach dem 2Mrd.-Dollar- Übernahmeangebot für Take-2 gehen kann, werden sie zu vielem bereit sein, um die drohende Konkurrenz für ihre Sportspiele auszustechen. Falls nach Release von GTA IV tatsächlich noch ein auf der E3 spielbares Backbreaker folgt, das ein ähnliches Potenzial aufweisen kann, wird EA keinesfalls so lange warten, bis dieser gefährliche Madden-Rivale überhaupt erst das Licht der zahlenden Öffentlichkeit erreicht. Interessant wird es allerdings, wenn ein anderer Publisher einen noch größeren Betrag bietet. Was auch immer in Zukunft passieren wird, eine Firma wird ihr bisher finanziell kritisches Jahr mit großer Euphoria beenden: NaturalMotion.